- Text von Tobias Pastoors
„Ehre, Freiheit, Vaterland“
Burschenschaften gelten als verschlossene Gemeinschaften, doch die Kölner Studierendenzeitung durfte hinter die Fassade der Altbauvillen schauen. Ein Bericht über blutige Fechtkämpfe, vollgepinkelte Stiefel und Meinungsfreiheit für Rechtsextreme.

Der Gesang tiefer Männerstimmen hallt durch das Treppenhaus der Altbauvilla in Köln-Lindenthal. „Brausend lasst den Ruf erschallen: Ehre, Freiheit, Vaterland!“ Es sind die letzten Zeilen der inoffiziellen Hymne vieler Burschenschaften. Das Lied wird an diesem Tag aus einem bestimmten Grund gesungen: Gerade hat ein Student seinen Schwur auf die Satzung der Burschenschaft Alemannia geleistet. Er ist nun ein vollwertiges Mitglied der Verbindung.
Etwa ein Dutzend junger Männer und zwei junge Frauen sind gekommen und stehen jetzt im Garten der Burschenschaft. Die Männer tragen schwarze Anzüge mitsamt Krawatte, dazu schwarz-rot-goldene Bänder und eine Mütze – als Zeichen dass sie zur Burschenschaft gehören. Kölsch wird ausgeschenkt. Für den Abend steht noch ein Vortrag auf dem Programm: Hubertus Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg wird über die Rolle des Adels im 21. Jahrhundert sprechen.
Bei seiner Ankunft guckt Sayn-Wittgenstein-Berleburg etwas irritiert auf die zwei jungen Frauen. „Burschenschaften sind doch ein Männerbund?“, fragt er. „Man braucht auch was fürs Auge“, entgegnet einer der Männer. Es bleibt nicht der einzige Spruch dieser Art an dem Abend. Frauen könnten Leistungsdefizite „immerhin durch Aussehen wieder gut machen“, meint ein junger Bursche. Mehrmals wird auch darauf hingewiesen, dass die „Studierendenzeitung“ doch eigentlich „Studentenzeitung“ heißen müsste. An einem anderen Abend bringt es einer der Männer auf den Punkt: „Gendergeschlechtergedöns ist bei uns kein Thema.“
Ein Band macht noch keinen Burschen
In der Villa der Alemannen scheint die Zeit stehengeblieben. Begriffe wie „Ehre“ und „Vaterland“ gelten hier nicht als verstaubt, auf die Benimmregeln des Knigge wird viel Wert gelegt und auch der Alltagssexismus hat die #MeToo-Debatte offenkundig unbeschadet überstanden. Verbindendes politisches Ziel der Burschenschaften ist auch heute noch die „Einheit des deutschen Vaterlandes“. Was vor 200 Jahren bei der Gründung der ersten Burschenschaften auch ein Kampf vieler progressiver und liberaler Studenten war, ist heute vor allem ein Thema für Rechte und Konservative. „Zeitgemäß zu sein, ist sicher nicht der Anspruch der Burschenschaften“, sagt Harald Lönnecker. Der in Chemnitz lehrende Privatdozent setzt sich seit Jahrzehnten mit Verbindungen und Burschenschaften auseinander – und er ist selbst auch Burschenschafter. „Wer sich für zeitgemäß hält, ist in Wahrheit indifferent”, sagt er.
Im Fokus der Öffentlichkeit stehen Burschenschaften meistens mit Schlagzeilen über rechtes bis rechtsextremes Gedankengut und Verstrickungen zu rechtsextremen Organisationen. Vor drei Jahren hat der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Uni Köln einen Reader über die Kölner Burschenschaften herausgegeben. Es gebe „fremdenfeindliche, chauvinistische Tendenzen“, zudem hätten „Burschenschaften eine große Anziehungskraft auf Menschen mit rechter oder rechtsextremer Gesinnung“. Insgesamt seien die Werte der Burschenschaften mit denen einer „offenen Gesellschaft, der Gleichstellung der Geschlechter und der Überwindung von Rassismus“ nicht in Einklang zu bringen.
Doch was ist überhaupt eine Burschenschaft? Im Kölner Stadtteil Lindenthal stehen viele prächtige Altbauvillen, vor deren Eingang eine Fahne gehisst ist. In der Heinestraße weht die rot-weiß-goldene Fahne des Corps Hansea und schräg gegenüber sieht man bereits die grün-gold-schwarze Fahne der Katholischen Deutschen Studentenverbindung Asgard.
Beides sind Verbindungen, jedoch keine Burschenschaften. „Für die Außenwelt ist jede Verbindung eine Burschenschaft“, sagt der Historiker Lönnecker. Dabei gibt es zahlreiche Formen studentischer Verbindungen: Neben Burschenschaften gibt es Corps, Katholische Studentenverbindungen, Landsmannschaften, Turnerschaften und vieles mehr.

Fast alle funktionieren nach einigen Grundprinzipien: Junge Studierende treten ein und bekommen dafür ein günstiges Zimmer in guter Lage und die Unterstützung und Solidarität der Gemeinschaft, so die Idee. Das Geld dafür kommt von den Alten Herren, also den ehemaligen Studierenden, die ein Leben lang in der Verbindung bleiben und den jungen Studierenden mit Rat zur Seite stehen – oder auch mal ein Praktikum oder bestenfalls einen Job organisieren. Schätzungen gehen davon aus, dass heutzutage etwa ein Prozent der Studierenden in Verbindungen organisiert sind. In die meisten davon dürfen nur Männer eintreten, es gibt aber auch gemischte und in Köln sogar eine reine Damenverbindung. Dass sich „Burschenschaft“ in weiten Teilen der Öffentlichkeit als Oberbegriff für Verbindungen durchgesetzt hat, dafür sieht der Professor Harald Lönnecker einen klaren Grund: „Sie waren die politisch Aktiven“. Denn anders als die meisten anderen Verbindungen verstehen sich Burschenschaften explizit als politische Gemeinschaft.
„NPD-Wähler hätten hier ein Problem”
„Wir haben keinen guten Ruf“, gibt Sebastian Zenses gerade heraus zu. Er ist der sogenannte Erstchargierte der Kölner Burschenschaft Alemannia, also der Vorsitzende der jungen Burschen und auch der Füxe, der Anwärter auf Mitgliedschaft. „Leider findet man auch in Burschenschaften extrem rechtes Gedankengut, aber längst nicht in allen“, meint er. Die Werte der Alemannia seien liberal, konservativ und demokratisch. Auf seinen Posten hat ihn der sogenannte Convent gewählt. Alle Mitglieder durften dort abstimmen, denn die Verbindung ist basisdemokratisch aufgebaut. Ebenso entscheiden sie gemeinsam per Wahl, wer neu dazu kommt und welche Strafe ein Mitglied, das gegen die Regeln der Verbindung verstößt, erdulden muss: Mit Gartenarbeit, Küchendienst und manchmal auch geringen Geldbeträgen sanktioniert die Gemeinschaft so „Fehltritte“.
„Wahrscheinlich hätten CDU, AfD und FDP bei einer Wahl in unserem Haus prozentual etwas mehr Stimmen als in der Gesamtbevölkerung.“, sagt Sebastian Zenses von der Alemannia. Aber „NPD-Wähler hätten hier ein Problem“, fügt Jan Schiffer, der Vorsitzende der Altherrenschaft, hinzu und alle am Tisch pflichten ihm bei. „Wenn das rauskäme gäbe es definitiv einen Antrag auf Ausschluss“, meint einer. Die NPD sieht man als Nazipartei, die AfD gilt als wählbar.
„Rassistische Ausfälle werden von Burschenschaften zwar kritisiert, das Weltbild dahinter jedoch nicht in Frage gestellt“, sagt der Sozialwissenschaftler Dietrich Heither. Er hat über Burschenschaften seine Doktorarbeit verfasst und zusammen mit anderen Autor*innen das Buch „Blut und Paukboden“ geschrieben, in dem die Geschichte der Burschenschaften kritisch beleuchtet wird. Heither wirft den Burschenschaften vor, dass es ihnen vor allem darum gehe, in der Öffentlichkeit als liberal zu gelten. Doch intern würde völkisches Gedankengut und Fremdenfeindlichkeit nicht ausreichend reflektiert und in Frage gestellt.
Um sich den Vortrag von Sayn-Wittgenstein-Berleburg anzuhören, war auch ein Alter Herr eines Corps im Haus der Alemannia. Nach dem Vortrag unterhielt er sich noch mit einigen jungen Männern. Es mangele den Verbindungen an Medizinstudenten, klagt er. Aber Medizin werde schließlich auch zu 80 Prozent von Frauen studiert. Außerdem seien unter den Medizinstudenten „sehr viele Ausländer“, fügt er hinzu. Für Irritation sorgt diese Aussage nicht.
Der Wahlspruch der Alemannen ist „Ehre! Freiheit! Vaterland!“ Was bedeutet das für Jan Schiffer? „Das muss jeder für sich selbst definieren“, sagt der 42-jährige, der vor 20 Jahren in die Burschenschaft aufgenommen wurde. Zu Ehre gehöre in jedem Fall, aufrichtig sein und zu seinem Wort zu stehen. „Und Vaterland, das kann das Rheinland sein, aber auch Köln oder Europa gehören für mich dazu. Es ist da, wo ich mich zuhause fühle.“

Braune Burschen am Rhein
Bei John Hoewer von der Burschenschaft Germania hört sich das ganz anders an. Hoewer ist mit 31 Jahren ebenfalls ein Alter Herr und leitet heute das Büro der AfD-Landesgruppe Sachsen-Anhalt im Deutschen Bundestag. Als er noch Europawissenschaften in Bonn studierte, wurde er Mitglied bei der Kölner Burschenschaft Germania. „Ich war davor schon bei anderen Verbindungen zu Besuch, wo alle die ganze Zeit betonten, nicht rechtsradikal zu sein“, erzählt er. Die Germania hingegen, so sagte man ihm damals, die sei sehr sehr rechts. Für Hoewer war der Fall klar: Er stellte sich bei der Germania vor.
Die Villa der Germanen liegt im Kölner Süden am Rhein. An der Fassade kleben noch bunte Flecken: Reste der bisher letzten Farbbeutelattacke. „Wenn man politisch unbequem ist, eckt man eben an“, meint Hoewer. Und mit unbequem meint er rechts, sehr weit rechts. Mit dem Gedankengut der Nationalsozialisten wolle man nichts zu tun haben, betonen die Germanen auf ihrer Webseite. Man stehe schließlich in der „freiheitlichen, demokratischen und revolutionären Tradition der Deutschen Burschenschaft“. Kritische Worte für das Gedankengut der Nazis finden sich aber nicht. An der Politik der Nazis kritisieren die Germanen, dass „an deren Ende die völlige Zerstörung Deutschlands stand.“ Im Flur des Hauses hängt eine Gedenktafel, auf der die Namen der im zweiten Weltkrieg gestorbenen Mitglieder aufgelistet sind. „Für Volk und Vaterland gaben ihr Leben“ steht darüber.
Die Burschenschaft Germania ist die einzige Kölner Burschenschaft, die noch im Dachverband der Deutschen Burschenschaft organisiert ist. Ziel des Verbandes war es einmal, alle Studenten zu vereinen, doch davon ist man weit entfernt. Auch weil die Frage, wer ein Deutscher ist und damit aufgenommen werden könne, die Vereinigung gespalten hat. Der Streit darum eskalierte 2011 vor dem Burschentag in Eisenach. Ein vorab formulierter Antrag der „Alten Breslauer Burschenschaft der Raczeks“ aus Bonn sickerte an die Öffentlichkeit durch. Laut der „Süddeutschen Zeitung“ forderten die Raczeks darin, „dass Menschen, welche nicht von deutschem Stamme sind“ keine Burschenschafter werden dürfen. Und weiter: „Eine nichteuropäische Gesichts- und Körpermorphologie“ weise auf „die Zugehörigkeit zu einer außereuropäischen populationsgenetischen Gruppierung“ hin. Der Antrag sorgte für große Kontroversen und wurde zurückgezogen. Doch er führte nicht dazu, dass die Verbandsmitglieder die Raczeks als offene Rassisten im Verband isolierten. Statt den Raczeks traten die liberaleren Bünde aus.
Einige Burschenschaften des Verbandes tauchen regelmäßig in Verfassungsschutzberichten auf. Anwohner*innen und Polizist*innen hörten vor zwei Jahren „Sieg Heil“-Rufe aus dem Haus der Germania in Hamburg. Für Hoewer sind das „Belanglosigkeiten“. Besoffene würden halt mal rumgröhlen. Der Verfassungsschutz habe besseres zu tun, als so etwas zu verfolgen. Auch eine NPD-Mitgliedschaft ist für ihn kein Problem. Über den AfD-Politiker Björn Höcke, der das Berliner Holocaust Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnet und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert hat, sagt Hoewer: „Ich finde den gut, auch persönlich ist er sehr sympathisch.“
Es sind Positionen wie diese, für die die liberaleren Burschenschaften nicht mehr als bürgerliches Feigenblatt herhalten wollten. Auch die Burschenschaften Alemannia und Wartburg aus Köln verließen 2012 den Verband. Mitte der Fünfziger Jahre hatte dieser 26.000 Mitglieder, heute sind es nur noch 7000 in Deutschland – und in Österreich. „Österreicher sind für mich keine Ausländer“, sagt Hoewer. Deutsch sei, wer von Deutschen abstamme und das habe nichts mit der Staatsbürgerschaft zu tun. „Man kann da über mehrere Generationen aber schon irgendwie reinwachsen“, meint er. Dafür müsse man in jedem Fall „Sprache, Brauchtum und Kultur der Deutschen“ übernehmen. Und dieser Prozess dürfe kein Massenphänomen, sondern nur eine Ausnahme sein, meint Hoewer. Jan Schiffer von der Alemannia sieht das anders: „Deutsch ist, wer sich deutsch fühlt“, sagt er knapp.
Die Burschenschaft Germania ist in Köln isoliert. Man habe keinen Kontakt zu anderen Verbindungen in Köln, bestätigt auch Hoewer. Bei der Burschenschaft Alemannia und auch bei der Burschenschaft Wartburg verdrehen die jungen Männer die Augen, wenn man sie auf die Germanen anspricht. Gleichzeitig wird die AfD als wählbare Partei betrachtet – die Partei für die John Hoewer von der Germania arbeitet.
Scharfe Klingen und blutende Burschen

Neben der Germania, Wartburg und Alemannia gibt es in Köln zwei weitere Burschenschaften, die Ascania zu Köln und die Sugambria. Die Burschen der Sugambria lehnten ein Gespräch mit der Studierendenzeitung ab, von der Ascania kam keine Rückmeldung. Beide sind in ihrer Tradition eher liberale Verbindungen. Im rechten Dachverband der Deutschen Burschenschaft waren sie nie Mitglied. Allein schon, weil sie seit ihrer Gründung eine Tradition der meisten Burschenschaften ablehnen: Das studentische Fechten. Wer hingegen bei der Germania Mitglied werden möchte, muss zweimal mit scharfen Klingen gefochten haben.
Um für die Mensuren – also das Fechten mit scharfen Klingen – zu trainieren haben die Germanen in ihrem Haus einen eingerichteten Übungsraum, den „Paukboden“. Drei bis viermal die Woche schlagen die Füxe und Burschen dort auf lederne schwarze Bälle auf einem Holzgestell ein. Wo im Training der Ball ist, ist bei der Mensur später der Kopf des Kontrahenten. Geschützt sind meist nur Nase und Ohren und die Klingen sind scharf. Am Körper tragen die Männer bei den scharfen Mensuren Kettenhemden und Lederschutz, um tödliche Verletzungen auszuschließen. Das Risiko am Kopf getroffen zu werden, gehört dagegen dazu. Bilder von blutüberströmten Burschen hängen im Übungsraum an der Wand. Auch Hoewer ist auf den Fotos zu sehen. An seinem Kopf eine frische Schnittwunde. Bei den Mensuren ist immer ein Arzt anwesend, der die Schnittwunden im Anschluss näht. Betäubung gibt es dafür nicht: „Wir sind ja keine Mädchen“, meint Hoewer.
Auch bei den Burschenschaften Alemannia und Wartburg wird gefochten. Jedes Mitglied muss das studentische Fechten lernen. Ob man am Ende eine Mensur mit scharfen Klingen schlägt, ist jedem selbst überlassen. Doch alle, die aktuell aktiv dabei sind, haben sich für das Ritual entschieden. Das überrascht den Sozialpsychologen Detlef Fetchenhauer nicht. „Wer an so einem identitätsbildenden Ritual nicht teilnimmt, macht sich zum Außenseiter“, sagt er. Fetchenhauer hat an der Uni Köln den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialpsychologie inne, die Mensur soll die Studenten aus seiner Sicht an die Burschenschaft binden: „Wenn man sich der Gefahr einer Verletzung ausgesetzt hat, um Mitglied zu werden, dann ist es schwer, sich das im Nachhinein als Fehler einzugestehen und wieder auszutreten.“ Dieser Effekt stärke die Identifizierung mit der Verbindung
Und die ist bei den jungen Burschen der Alemannia in Köln-Lindenthal stark. Gerne betonen sie die Solidarität innerhalb der Burschenschaft. Ein Alter Herr der Alemannia beschreibt das so: „Wenn einer dazu gehört, dann steht man zu ihm. Persönliche Differenzen stellt man hinten an.“ Fast 100 Alte Herren hat die Verbindung und knapp 30 Burschen. Acht der jungen Männer wohnen momentan in ihrem Verbindungshaus. „Es ist wie eine große WG“, erzählt einer von ihnen. Eine WG mit überdurchschnittlichem Alkoholkonsum. Bier ist eine Grundkonstante im Haus, es gehört zum Verbindungswesen dazu.
Doch während man intern zusammenhält, legt man sich mit anderen Verbindungen gerne mal an. So herrscht an einem Abend auf einmal Aufregung im Garten der Alemannen. „Riech mal!“ ruft einer der Burschen und hält einem Kollegen ein riesiges Trinkgefäß in der Form eines Stiefels unter die Nase, die dieser sogleich verzieht. Der Befund scheint eindeutig: „Die haben uns in den Stiefel gepisst“, ruft ein anderer. Schuldige haben die Männer auch gleich ausgemacht: Mitglieder eines Corps aus der Nachbarschaft sollen es gewesen sein. Hausverbot fordern einige.

Mit der AfD aus der Belanglosigkeit
Während den einzelnen Burschen ihr Bund sehr viel bedeutet, hat die Bedeutung der Burschenschaften in Deutschland über die Jahre immer weiter abgenommen. „Bis 1968 war die Mitgliedschaft in einer Verbindung hilfreich, um Karriere zu machen“, sagt der Sozialwissenschaftler Dietrich Heither. „Die Zeit war ein deutlicher Bruch für die Burschenschaften, sie haben auch politisch massiv an Einfluss verloren.“ Ein Bruch, der die Burschenschafter in ihrem Selbstverständnis hart getroffen hat: Sie möchten als politische Verbindungen in die Gesellschaft wirken, doch spätestens seit 68 sind sie Außenseiter. Es folgte der „Rückzug auf die Häuser“, wie Heither und auch Lönnecker beschreiben. Statt in die Gesellschaft zu wirken, kapselten sie sich von ihr ab, ihre Quartiere wurden zu „Safe Spaces“ für Konservative. Während in den sechziger Jahren noch bis zu 14 Burschenschafter im Bundestag waren, waren es in der vergangenen Legislaturperiode von 2013 bis 2017 nur noch fünf.
Seit dem Einzug der AfD sitzen wieder neun Burschenschafter im Deutschen Parlament – drei von der CDU, zwei von der CSU und vier von der AfD. Und in den Häusern der Burschen herrscht Aufbruchsstimmung. „Die politische Kultur wird sich auch in Deutschland durch die AfD normalisieren“, meint ein Alter Herr der Alemannia.
Auch in der Verbandszeitung des 2016 neu gegründeten Dachverbandes der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft wird hoffnungsvoll über den Aufstieg der AfD berichtet: „Inzwischen hat sich für die Burschenschaften ein neues politisches Feld eröffnet, um aus der Defensive herauszukommen. Der Aufstieg der AfD“, heißt es in einem Bericht. Kritische Töne für die Partei finden sich in dem Artikel nicht.
Meinungsfreiheit über alles
Im Haus der Alemannia hingegen wird auch die AfD kritisch gesehen. Nicht jeder ist dort mit der starken Rechtsverschiebung in der Partei hin zu völkischem Denken einverstanden. Als Hubertus Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg gleich zu Anfang seines Vortrags klar stellt, dass er mit den „fürchterlichen völkischen Positionen“ seiner Verwandtschaft in der AfD, der Fürstin Doris von Sayn-Wittgenstein, nichts zu tun haben wolle, nicken einige. Zwei Wochen später war bei der Alemannia dann ein prominenter Kritiker der heutigen AfD zu Gast: der Gründer der AfD, Bernd Lucke. Lucke hatte die AfD 2015 mit der Begründung verlassen er wolle nicht mehr als bürgerliches Aushängeschild für eine Partei dienen, in der sich „islamfeindliche und ausländerfeindliche Ansichten“ durchgesetzt hätten. Lucke spricht überwiegend über Wirtschafts- und Fiskalpolitik in der Europäischen Union, betont aber im Gespräch auch mehrfach die Bedeutung des Rechts auf Asyl für politisch Verfolgte.
Sein Vortrag kommt gut an, mehrere Burschen machen nachher Selfies mit Lucke. Einigen hier wäre eine bürgerlich-konservative Lucke-AfD lieber. Doch deutliche Kritik am völkisch-nationalen Kurs der heutigen AfD äußert niemand. Und auch wenn man die Alemannen auf die Germania anspricht, halten sie sich mit Kritik zurück. „Die interpretieren Burschenschaft ganz anders als wir“, sagt Jan Schiffer. Auch zu den Bonner Raczeks und deren rassistischem Antrag auf dem Burschentag möchte er nicht viel sagen. Was die Raczeks machen, sei ihm relativ egal.
Die Zurückhaltung hat auch mit dem Verständnis von Meinungsfreiheit zu tun, das in Burschenschaften gängig ist: Was jemand anderes sagt und denkt, da mischt man sich nicht ein. So sieht es auch der Burschenschafter und Historiker Harald Lönnecker. Natürlich seien einige der Themen der Burschenschaften anknüpfungsfähig für Rechtsextreme. Wie zum Beispiel die Debatte darum, wer deutsch sei. „Aber das ist kein Grund für Distanzierungen, es gilt die absolute Freiheit des Wortes“, sagt er.
Und die Burschenschafter meinen es ernst mit der Freiheit der Gedanken und des Wortes. Auch mehrere politisch eher linke Studenten, die zeitweise in Burschenschaftshäusern gelebt haben, bestätigen der Kölner Studierendenzeitung, dass ihre Meinung dort zwar eine Minderheitenposition war, sie aber deshalb nicht ausgeschlossen wurden. Der Ton in den Diskussionen sei hart gewesen, Grenzen der „Political Correctness“ hätten niemanden interessiert.
„Zu uns kommen auch viele, die für ihre Meinung nicht ausgegrenzt werden möchten“, sagt Sebastian Zenses von der Alemannia. In Deutschland sei die Meinungsfreiheit inzwischen ziemlich in Gefahr, meint ein Fux der Burschenschaft. Bei der Alemannia gibt es jedenfalls keine Sprechverbote: Auch sexistische Sprüche sind dort kein Tabubruch. Wem das nicht reicht, der kann sich bei der Germania vorstellen – um auch im 21. Jahrhundert darüber zu diskutieren, wer ein echter Deutscher ist und wer nicht.