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  • Tayla Spitzbart

Sonntagskolumne: Geschichten aus der Stadt - Heimatlose

Über ein halbes Jahr lang saß die ältere Dame auf einer Kiste vor meiner Bahnstation und segnete die vorüberziehenden Leute, in der Hoffnung auf etwas Kleingeld. Geblümtes Kopftuch und ein zahnloses Lächeln. Wochenlang, fast jeden Tag. Bis sie eines Morgens nicht mehr dasaß. Sie war einfach weg und ich blieb völlig perplex stehen.


Für ein paar Sekunden schaute ich auf die von ihr hinterlassene Leere, bevor ich meinem Alltag nachging und zum Gleis hinunter lief. Wieso war sie weg? Wo war sie hin? Hatte sie sich einfach einen neuen Ort gesucht oder war ihr etwas zugestoßen? Ich habe die Frau nie wiedergesehen und noch immer denke ich oft an sie, wenn ich, wie jetzt gerade, an dem Platz vorbeikomme, an ihrem Platz. Ein Paradoxon von persönlicher Distanz. Wer sind diese Menschen, die uns in der Fußgängerzone nach Geld Fragen, die nachts auf der Parkbank schlafen, die ihr Leben in einem großen Rucksack gepackt mit sich auf der Straße herumtragen und uns auf dem Boden sitzend, an die Fassaden gelehnt mit leeren Blicken anschauen? So oft möchte ich mich auf Augenhöhe vor sie hinknien und fragen: „Was ist passiert? Sag, was ist denn nur passiert?“. Aber ich widerstehe dem Impuls.


Und so laufe ich durch die Straßen der Stadt und lasse die Eindrücke auf mich wirken. Egal, an welchem Tag der Woche, zu jeder Uhrzeit und bei jedem Wetter habe ich das Gefühl, sie sind wie ein Schatten. Ich weiß, dass sie da sind, jeder weiß das. Aber dennoch übersehen wir sie. Obdachlosigkeit - ein großes Problem und doch niemandes Problem, es ist immer das der anderen und nie das eigene. Das rede ich mir zumindest ein, weil ich ehrlich gesagt nicht hinsehen möchte. Denn wenn ich doch hinschaue und sich unsere Blicke treffen, bin ich bewegt und Zweifel kommen in mir auf. Aber keiner wird schließlich dazu gezwungen auf der Straße zu leben. Oder doch? Können wir denn an einem Schicksal Schuld haben? Und wenn wir von Schuld sprechen, kann dann im selben Satz überhaupt noch von Schicksal die Rede sein?


Ich muss einkaufen gehen. Die Liste ist mal wieder ewig lang, bis auf ein paar Konserven und Tütensuppen habe ich fast nichts mehr an Vorräten zu Hause. Außerdem will ich es vermeiden, den Groll meiner Mitbewohnerin auf mich zu ziehen, weil ich schon wieder kein neues Spülmittel gekauft habe. Wie gewohnt parke ich mein Fahrrad rechts neben dem Eingang und hole die zwei Jutebeutel aus meinem Rucksack. Und wie gewohnt sitzt da an der Ecke gegenüber der Kaufhalle die Frau mit den vielen Piercings im Gesicht. Wer ist sie? Wäre sie nicht, aus welchen Gründen auch immer, in ihre jetzige Situation geraten, was würde sie machen? Manchmal denke ich mir Geschichten aus. Vielleicht wäre sie Angestellte in einer Kaufhauskette, eine gescheiterte Ehe hinter sich, jetzt zum zweiten Mal, diesmal glücklich, verheiratet und zwei Kinder: Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen von acht Jahren. Und während ich so diesen Denkfaden spinne, sitzt sie da im Schneidersitz und schaut mich feindselig an. Ich fühle mich sofort ertappt, senke meinen Blick Richtung Boden und betrete das Geschäft. Spülmittel nicht vergessen!, denk ich noch.


Ich bezahle mit einem Zwanzigeuroschein und die Kassiererin gibt mir 1,61€ zurück, die ich im Hinausgehen in meine Jackentasche gleiten lasse. Dann bleibe ich plötzlich stehen. Ich könnte mein Kleingeld auch einfach der Frau geben. 1,61€ weniger würden mich nicht arm machen. Aber irgendwie will ich auch nicht. Da ist so eine Blockade in mir, irgendetwas hemmt mich und hält mich davon ab, hinüber zu gehen. Da ist diese Mauer zwischen unseren Welten. Wir sind uns so nah, räumlich kaum getrennt und doch befinden wir uns in zwei parallelen Universen. Diese Grenze entsteht durch unsere Ignoranz und Unsicherheit, sowie durch deren Hilflosigkeit. Hinter jedem einzelnen von ihnen verbirgt sich eine Geschichte und jede einzelne will gehört werden. Aber sie können nur selten durchdringen zu uns. Noch immer steh ich so da, meine rechte Hand das Kleingeld in der Tasche umklammernd. Hinschauen oder wegschauen? Entscheide dich jetzt. Hinschauen oder wegschauen? Ich laufe also weiter, an meinem Fahrrad vorbei und werfe unsicher lächelnd die Münzen in den Hut, der vor ihr auf dem Boden bereitliegt. Sie lächelt zwar nicht zurück, bedankt sich aber bei mir und wünscht einen schönen Tag.


Auf dem Heimweg denke ich mit Fahrtwind im Gesicht weiter über das Leben von Obdachlosen nach. Verloren gegangen unterwegs zum Ziel und geendet in einer Sackgasse, wo ihnen das unüberwindbare Vakuum der Chancenlosigkeit jetzt den Weg versperrt. Aber dennoch sind sie unterwegs. Und wohin? Mit welchem Ziel? Frieren, Hungern und Betteln gehören zum Alltag, Privatsphäre gibt es nicht und der drückende Schleier der Langeweile legt sich über das gesamte Dasein. Fast so wie ein Sargdeckel, der sich von Tag zu Tag ein Stück mehr verschließt. Keine Tür, die man schließen kann, um sich in Sicherheit zu wissen. Die ständige Gefahr von Diebstahl und Gewalt. Alkohol und Drogen, um den dumpfen Zustand der Betäubung aufrechtzuerhalten. Aufgeben. Welches Ziel hat man denn da noch vor Augen und woran kann man glauben? An die Güte der Mitmenschen, die mit mitleidigen Blicken auf dich herabschauen? An die Solidarität? Oder an einen Gott, der dir diese Herausforderung gegeben hat, um an ihr wachsen zu können?


Zuhause angekommen verräume ich erst mal meinen Einkauf. Mit welcher Selbstverständlichkeit ich gerade 20 Euro ausgegeben habe, um zu kaufen, was ich meine, für mein alltägliches Leben zu benötigen. Gerade als ich das Päckchen Linsen oben auf das Regal stelle, fällt mein Blick auf den grünen Küchenschwamm. Ich hab‘ das Spülmittel vergessen. Natürlich. Naja, eigentlich ein ziemlicher Luxus, wenn das schon das größte meiner Probleme ist, denke ich mir und lasse mich nachdenklich auf den Stuhl sinken. Das alles klingt schon sehr nach Opferrolle. Doch wem kommt diese Rolle denn zu? Auch wir sind schließlich deren Opfer. Opfer des Wohlstandes. Wie oft wurde ich auf offener Straße schon grundlos beleidigt, als Sündenbock verwendet für allen angestauten Frust, nur, weil ich gerade zur entsprechenden Zeit am entsprechenden Ort war? Wie oft habe ich in der Bahn schon die Luft angehalten, weil ihr beißender Geruch in der Nase einfach nicht zu ertragen war und wie oft habe ich mich schuldig gefühlt für meinen Lebensstandard, der im Vergleich schon als Reichtum durchgeht?



Meine Einkaufserfahrung von heute dient da als bestes Beispiel. Dabei ist das doch der falsche Ansatz, lasse ich meine Gedanken weiterspielen und setze Teewasser auf. In dieser Gesellschaft voller Normen ist doch jeder in gewisser Weise Opfer eines anderen. Man möchte sich davon freimachen und wegkommen von all diesen Normen, Schubladen, und Vorurteilen und einfach nur Mensch sein. Das will ich wirklich. Aber ich kann es nicht. Ich kann dem verlotterten Mann am Bahngleis, der mir aufdringlich seinen Pappbecher mit Kleingeld darin vors Gesicht hält, nicht genauso begegnen wie der telefonierenden Frau mit dem Rollkoffer, die in den Zug einsteigt. Das schnappende Geräusch verrät mir, dass das Wasser kocht. Aber die Würde des Menschen ist doch unantastbar, oder?, frage ich mich und wasche meine Lieblingstasse schnell mit lauwarmen Wasser aus. Spülmittel habe ich ja keins.

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